Erfreulicher und dankenswerter Weise wurde mir die Arbeit an diesem Projekt durch ein Stipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW ermöglicht.
Der total verrückte Rasenmäher-Roboter
„Da leck mich en de Täsch!“, sagte der arbeitslose Kanarienvogelzüchter Fridolin Ackermann halblaut zu sich selbst. Er hatte gerade gelesen, dass eine entfernte Groß-Schwieger-Stief-Tante, von deren Existenz er bis eben noch nichts gewusst hatte, verstorben war und ihn als alleinigen Erben bestimmt hatte. Ein paar Tage später, nachdem alle Formalitäten erledigt waren, stand Ackermann staunend auf der Terrasse SEINES Chateaus und blickte in die unendlich wirkende Weite des Parks, der am Fuße des hügeligen Geländes an einen See grenzte. „Jetzt heiße ich nicht nur wie ein Großgrundbesitzer“, dachte Ackermann, „jetzt bin ich einer! – Es ist vorbei!! Alles wird gut! Mein Traum wird endlich wahr! – Ich verzeihe dir, Vater!“
Es war nämlich so, dass Fridolin Ackermann es immer gehasst hatte, ein Kanarienvogelzüchter zu sein. Ackermann Senior hatte ihn gedrängt, in seine Fußstapfen zu treten und die kleine Zoohandlung und den Zuchtbetrieb zu übernehmen. Dabei musste man zu Fridolin Ackermanns Verteidigung wissen, dass es sich ursächlich um ein rein medizinisches Problem handelte, welches im Endeffekt dazu führte, dass er, als er die Geschäftsführung übernommen hatte, der Äthersucht verfiel und die Zoohandlung vor die Hunde ging. Denn Fridolin Ackermann war Hochton-Hypochonder. Auf laute, schrille Geräusche reagierte er schon als Säugling mit unkontrollierten Zuckungen und Schreianfällen. Hohe Töne bedeuteten für ihn Stress, der sich im Laufe der jahrelangen Arbeit in der Vogelvoliere darin äußerte, dass er bereits an allen geläufigen Krankheiten, aber auch an völlig unbekannten Hautausschlägen sowie Phantomschmerzen in allen möglichen Körperteilen gelitten hatte. Das Einzige, was ihm Linderung verschaffte und ihn bisher am Leben hielt, war ein alter Massagesessel, den er mal beim Sperrmüll ergattert hatte. Sein tiefes Brummen in Kombination mit seiner hypnotisierenden Vibration versetze Ackermann stets in einen Schwebe-Zustand, in dem er Ruhe finden und alles Leid vergessen konnte. Ein ähnliches Gefühl hatte er nur einmal, als kleiner Junge auf einem Bauernhof im Urlaub gehabt. Damals durfte er einen Aufsitzrasenmäher fahren, der aussah wie ein Traktor für Zwerge. Dabei war er zum ersten Mal wirklich glücklich gewesen. Doch von der Anschaffung eines solchen Rasenmähers konnte er auf seinem weiteren Lebensweg nur träumen. Der Familienbetrieb warf nie genug ab, um sich ein solches Gefährt leisten zu können. Aber wenigstens hatte er seinen Massagesessel. Er verbrachte fast seine gesamte Zeit in diesem Sessel und er brachte es nicht übers Herz, seinem Vater, der seine Vögelchen so sehr liebte, zu sagen, wie sehr er litt. Sogar nachdem sein Vater verstorben war, wollte er dessen Lebenswerk ohne Rücksicht auf sich selbst, fortsetzten. Doch eines Abends stellte der Massagesessel unter einem laut quietschenden Geräusch, das wie der Todesschrei eines Schimpansen klang, seine Dienste für immer ein und Fridolin Ackermann drehte durch. Der täglich immer wahnsinniger Werdende griff ja, wie bereits erwähnt, zu Betäubungsmitteln, eines kam zum anderen, alles wurde immer schlimmer und es folgte schließlich die Insolvenz.
Immerhin führte die Geschäftsaufgabe dazu, dass es Ackermann, nachdem er sich von den Piepmätzen getrennt hatte, mit der Zeit etwas besser ging und er seine Äthersucht, wenn auch nur vorübergehend, besiegen konnte.
Doch jetzt war er plötzlich nicht nur gesund, sondern auch reich. Und vor seinem inneren Auge sah sich der stolze Erb-Landvogt schon über die Hügel seines eigenen Parks fahren.
„Auf meinem nigelnagelneuen AUFSITZMÄHER!“, rief er laut.
Nur zwei Stunden später erstand er in einem Baumarkt den GB 9000, das Prunkstück, das Flaggschiff der kanadischen Renommiermarke Grass-Buster, den teuersten Rasentraktor der Welt.
Ganze drei Monate verbrachte Fridolin Ackermann damit, durch seinen Park zu tuckern und zu mähen. Er fühlte sich in dieser Zeit wie frisch verliebt, wie im Himmel auf Erden! Bandscheiben und Gesäßmuskulatur waren einiges gewohnt, schließlich hatte Ackermann fast 20 Jahre auf einem Massagesessel verbracht und so saß er diese 90 Tage wirklich auf einer Arschbacke ab. Auf der Linken! – So hätte Ackermann, glücklich mit sich und dem Universum in den Sonnenuntergang seines Lebens brummen können, wenn dies ein David Lynch Film wäre. Aber die Realität sah ganz anders aus!
Und so verspürte Ackermann eines Tages in der wohlig warmen Mittagssonne einen leichten Anflug von Langeweile. Er stoppte seinen roten Rasentraktor unter einem Mammutbaum, stellte den Motor ab und ließ seinen Blick in der nie gekannten Stille über das glitzernde Wasser des Sees schweifen. In diesem Moment landete eine Singdrossel auf einem Ast des Mammutbaumes und tat dann das, was Singdrosseln halt so machen. Sie sang! – Ackermann fuhr es durch Mark und Bein. Am ganzen Körper zuckend stürzte er von seinem Gefährt und wurde ohnmächtig. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war er von Panik erfüllt. Er flüchtete sich in den Weinkeller seines Chateaus und betrank sich. Doch der Alkohol hatte nicht die erhoffte beruhigenden Wirkung auf ihn, sondern führte dazu, dass er plötzlich eine unbändige Lust verspürte, sich wieder mit Äther zu betäuben. Schon am nächsten Morgen setzte er seinen im Suff verfassten Plan in die Tat um. Die kommenden Tage verbrachte er im Rausch, mähend auf seinem Rasentraktor, bis er eines Abends, breit wie eine Eule, gegen eine Palme fuhr und sich einen Arm und beide Beine brach. Weil er verletzungsbedingt nun nicht mehr durch seinen Park fahren konnte, ließ sich Ackermann einen neuen Massagesessel liefern und auf der Terrasse aufstellen. So musste er jäh feststellen, dass der Rasen bedingt durch monatelanges Mähen, sehr schnell nachwuchs. Glücklicher Weise lernte er in dieser Zeit den englischen Gartengeräte Hersteller Mr. Moe Lawn kennen, der eigentlich das verstorbene Tantchen besuchen wollte. Mr. Lawn erzählte Ackermann, dass er mit der „Elektrischen Ameise“ die Lösung für sein Problem habe.
„Thee Electric Ant ist ein intelligenten Rasenmaher-Roboter, der die Rasenschnitt sammelt und Naxs in der Homebase in Biodiesel verwandelt. Ein klugen, tuchtigen, klein Ameisen! Thee electric ant ist absolut umweltfreundlic und unabhangig von fremden Energy!“ –
„ICH WILL EINE ROBOTER-RASENMÄHER ARMEE!!“, schrie der vom Äther leicht größenwahnsinnig gewordene Ackermann.
„Naturlic, Sör, wie si wunschen. Eine Army! Hau männy Ameisen durfen es sein?“
Schon bald war ein Heer von kleinen Rasenmäher-Robotern damit beschäftigt, sich leise und ameisenfleißig um die Gartenpflege zu kümmern, während Fridolin Ackermann in seinem Massagesessel vor sich hin vibrierte. Eines Nachts, als die Maschinen eigentlich mit der Produktion von neuem Treibstoff beschäftigt sein sollten, führte ein simpler Programmierfehler dazu, dass die Roboter bösartig wurden und sich gegenseitig auflauerten. In ihrem System stand nichts von Interaktion mit anderen Auto-Bots, Ressourcenknappheit oder Futterneid. Am nächsten Morgen hatten sich gegenseitig eliminiert.
Also telefonierte Ackermann aufgebracht mit Mr. Lawn, der ihm nur wenig später seine geniale Lösung präsentierte:
„That ist the SLR -- der Solar-Luftkissen-Rasenmaher! Der SLR ist die Gegenteil gegenüber die alte aggressiven Serie. Er is allein und er is lieb! Er is wie ein Schaf, er maht immer und sammelt nix! Und er dungt durch die Schnitt, die vermulscht wird, der Boden! – OK, eine Solar-Rasenmaher ist wie eine Schaf. Eine Solar-Luftkissen-Maher is wie eine Schaf mit Boat! Der kann uberall hin!“
Leider stellte sich später heraus, dass der SLR kein Schaf im Boot, sondern viel mehr ein Wolf im Schafspelz aufm Flugzeugträger war, doch der Reihe nach.
„Der SLR is eine Wunderwerk! Es enthalt weniger Plastic den ein richtigen Schaf! Es is komplett Bio. Brand new techology!! Die Messer sin aus ein organischen Metall. Die nutzt nix ab und wachst immer nach und wird immer und immer scharfer!!!“, schwärmte Mr. Lawn. „Außerdem hat er eine Atomspeitscherkörn fur ubrige Energy. Er kann immer und arbeit immer. Is eine Schaf without Schlaf!“
„SCHALT EIN!“, war Ackermanns knappe Antwort.
So begann der SLR mit seinem Werk und schnell hatte der völlig überdimensionierte Rasenmäher seine Arbeit erledigt. Doch da der Schalter für den Dauerbetrieb auf ON stand, suchte sich der SLR neue Aufgaben. In immer größer werdenden Kreisen mähte er sich durch die Landschaft. Durch die Kombination der neuartigen organischen Materialien mit einem Hochleistungsrechner entstand künstliche Intelligenz und der SLR wuchs, er wurde größer und größer und mähte immer und immer. Er schredderte den ganzen Südamerikanischen Kontinent. Bald waren vom Regenwald nur noch Sägespäne und von den unzähligen Tierarten ein roter Nebel in der Luft übrig. Dann fräste er sich durch die Polkappen und löste riesige Flutwellen aus, in denen Hunderttausende ihr nasses Grab fanden. Als er alles niedergemäht, seine Aufgabe also erledigt hatte, sah der SLR keinen Sinn mehr, weiter zu existieren und explodierte. Nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und dem Reaktorschaden in Tschernobyl war dies die größte von Menschen ausgelöste ökologische Katastrophe.
Aber schon ein paar Wochen nach dem Unglück sah man hier und da wieder etwas Grünes sprießen. Moe Lawn erhielt ein lebenslanges Berufsverbot. Fridolin Ackermann steht immer noch auf Äther und züchtet mittlerweile Schmetterlinge. Den Rasen überließ er ganz und gar der Natur. So konnten sich die Schmetterlinge nach einiger Zeit über eine wild wuchernde Blumenwiese freuen.
Sträwkcür
Stell dir vor, du bist kurz vor Ladenschluss auf dem Weg zum Bäcker und du hast unglaublich schlechte Laune. Du beschließt, einen deiner Mitmenschen an deiner Stimmung teilhaben zu lassen. Du wirst jetzt das Mädchen mit der gelben Tasche anrempeln, dich vordrängeln und ihr sagen, wie unglaublich hässlich ihre gelbe Tasche ist und dann wirst du ihr noch sagen, dass die Tasche aber gut zu ihren Zähnen passen würde. Stell dir weiter vor, dass du plötzlich eine Stimme hörst.
Der Routenplaner deines Lebens sagt: Bitte wenden!
Nein, er sagt: Nednew ettib!
Auf einmal kommt das Mädchen mit der gelben Tasche rückwärts auf dich zu und auch du gehst in die falsche Richtung. Alle Menschen um dich herum bewegen sich verkehrt herum. Und plötzlich ist deine schlechte Laune wie weggeblasen und du findest es irgendwie komisch. Du merkst auch, wie sich die Sprache deiner Gedanken ändert und du realisierst, dass du dich selbst nur noch schlecht verstehen kannst. Das macht dich zwar nervös, aber es amüsiert dich auch. Du siehst, wie Blätter vom Boden abheben und wie Schmetterlinge zu einem Baum fliegen, um sich dort auszuruhen. Du schaust auf deine Armbanduhr und du hörst, wie die Zeit entsteht:
Kat, kit, kat, kit, kat, kit…
Später beim Mittagessen merkst du zum ersten Mal, dass andersherum leben nicht immer lustig, sondern auch sehr unappetitlich sein kann. Du erinnerst dich auch an die Rückwärtsbotschaften bei den Doors und Led Zeppelin. Und plötzlich weißt du, dass Satan, der Gehörnte ein merkwürdiges Spiel mit dir treibt. Dabei fällt dir dann auch ein, dass du dich vor zwei Tagen nach einer üblen Sauftour auf einer ekligen Kneipentoilette übergeben hast. Überhaupt kommen dir immer mehr unangenehme Dinge in den Sinn. Dinge, die du eigentlich schon fast vergessen oder verdrängt hattest. Dann bekommst du es mit der Angst zu tun, weil du daran denken musst, dass deine Vergangenheit jetzt deine Zukunft ist, und dir fallen schlimme Unfälle und Knochenbrüche ein…
Als du am Morgen ins Bett gehst, wird dir, kurz bevor du einschläfst, klar, dass du nicht sterben wirst. Viel schlimmer! Du wirst geboren! – Nur andersrum!! Dann wird es dunkel.
Und du hörst wieder diese Stimme. Diesmal sagt sie:
Neuberechnung im Gang. – Bitte wenden!
Als du die Augen öffnest, steht vor dir wieder das Mädchen mit der gelben Tasche. Mit ein paar schnellen Schritten gehst du an ihr vorbei und du öffnest für sie die Tür der Bäckerei. Dann sagst du: „Nach dir!“, und du machst ihr noch ein Kompliment über ihre schöne gelbe Tasche! Nachdem du dir ein Rosinenbrötchen gekauft hast, schwörst du dir, dass du nie wieder unfreundlich zu jemandem sein wirst und du beschließt, nie wieder schlechte Laune zu haben!
Tierkörperverwertung - Ein Wintermärchen
Ich erkannte Mischa sofort im morgendlichen Trubel auf dem Marktplatz, obwohl ich ihn schon anderthalb Jahre nicht gesehen hatte. Er trug einen langen, zotteligen Pelzmantel, eine riesengroße Fellmütze und rauchte an einem Stapel Holzkisten, die mit aussortiertem Obst und Gemüse gefüllt waren, eine Zigarette. Als er mich sah, brüllte er auch schon los:
„Därr Pause!“ –
Mischa, eigentlich hieß er Michael, hatte sich vor Jahren, als wir noch zur Schule gingen, angewöhnt mit polnischem Akzent zu reden, da er, wie er oft erzählte, einen polnischen Großvater habe, der kein Deutsch lernen wolle. In Wahrheit war es jedoch so, dass er sich damit vor den Mädchen interessant machen wollte. Immerhin trank er auch damals schon wie ein kaschubischer Maurer, was die ganze Sache für Unwissende absolut glaubhaft machte. Immer hatte er ein paar Fläschchen Korn oder Wodka dabei. – Auch jetzt griff er tief in die Manteltasche und reichte mir einen gläsernen Flachmann:
„Mänsch, wie gähts?“
„Gut“, sagte ich und nahm einen kräftigen Schluck. „Ahh! Und Du? Was macht die Kunst?“
„Alles klar, ich habe gerade diese Kisten organisiert. Das reicht für ‘ne ganze Woche. Packst du mit an?“
Wir schleppten jeder drei Kisten bis ins Dachgeschoss des Mietshauses in dem Mischa seit der elften Klasse wohnte. Dort angekommen traf mich fast der Schlag. Überall hingen, auf Wäscheleinen, kleine Fellstücke und es roch wahrlich nicht gut. In einer Ecke des Wohnzimmers brannte ein kleines Lagerfeuer, darüber klaffte in der Decke ein großes Loch.
„Da musste ich Durchbruch machen“, sagte Mischa und sah mich stolz an.
„Warum hast du ein Feuer im Wohnzimmer?“ Mir fiel auf, dass mein Freund in seinem Pelzmantel wie ein Höhlenmensch aussah. „Was machen all die toten Ratten auf den Wäscheleinen?“
„Das sind Kaninchen. – Und auch Eichhörnchen. – Eine lange Geschichte. Meine Vermieterin, Frau Pucknath, verbringt den Winter doch immer in Spanien. Dann ist vor funf Wochen die Heizung kaputt gegangen. Seit ihr Mann verstorben ist, kummert sich niemand mehr ums Haus. Da habe ich Feuer gemacht. Das hat geraucht und ich musste reagieren.“
„Und die Viecher?“
„Ja, das war so: Im Sommer habe ich gesehen, wie eine uberfahrene Katze am Straßenrand lag. – Feines, weiches Fell! – Da hat ein Madchen den Vater gefragt, ob die Katze tot ist. Der Vater hat dann gesagt: Nein, die schlaft nur. Das ist die Idee, hab ich gleich gedacht und hab photographiert und Ausstellung gemacht in Kunstmuseum Abteiberg. Titel: Schlafende Tiere an der Autobahn. War großer Erfolg! So, dann im Winter jetzt ging Heizung kaputt und ich hatte wieder Idee. Tierfell schutzt gut vor Kalte. Uberall liegen angefahrene Tiere – Rohstoff!! Ich mache Mantel, Mutze, Handschuh... Erst fur mich, dann fur Tante und jetzt ich verkauf!“
Ja, der Mischa, dachte ich, der geht seinen eigenen Weg. – Wir tranken noch ein paar Schnäpse und ich ließ mir die vorzüglichen Eigenschaften natürlicher Pelze erklären.
Ein paar Wochen später, am 23. Dezember, klingelte es spät abends an der Tür. Da ich niemanden erwartete, öffnete ich erst, als es wiederholt schellte. Es war Mischa. Er war sehr aufgeregt und bat mich mitzukommen, um ihm zu helfen. Mit den Worten: „Heizung im Auto ist defekt“, reichte er mir einen mitgebrachten Pelzmantel und ein Paar Handschuhe. Als wir im dichten Schneetreiben in seinem Wagen aus der Stadt hinausfuhren, erzählte mir Mischa, dass er von seiner Tante einen Tipp bekommen hätte, wo ein verunfallter Hirsch in einem Wäldchen lag. Er hätte auch schon alleine versucht, das Tier zu laden, aber es ginge nicht, der Hirsch wäre zu schwer. Als wir nach gut einer Stunde Fahrt an besagtem Fundort eintrafen, stellte sich schnell heraus, dass Mischa nicht gelogen hatte. Nicht nur, dass der Hirsch wahrscheinlich fünf Zentner wog und ein riesiges Geweih besaß, er war auch noch steif gefroren und damit umso unhandlicher. Wir schleppten das Tier unter äußerster Anstrengung durch den Fichtenwald bis zum Wagen. Dort nahm Mischa erst mal einen ordentlichen Schluck, reichte mir die Flasche und sägte dann das Geweih des Hirschs ab.
„Jetzt komm, Hirsch muss auf Rucksitz. Kofferraum ist voll.“
Zum Beweis öffnete er die Heckklappe. Der Kofferraum war bis zum Rand mit kleinen Tierkörpern gefüllt.
„Kuhltruhe zu Hause ist voll. Und hier“, er zeigte auf den Tierfriedhof in seinem Wagen, „festgefroren!!“
Also wuchteten wir den Hirschen auf die Rückbank. Irgendwie fühlte ich mich schlecht, aber Mischa war euphorisch.
„Daraus mache ich Bettdecke!“
Auf der Rückfahrt soffen wir fast eine ganze Flasche Doppelkorn aus. Obwohl es ein feines Destillat war, wurde es uns zum Verhängnis. Mischas 76er Kadett war überladen, hatte Heckantrieb und Sommerreifen. So kam es, dass Mischa in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen verlor, und wir ins Schleudern gerieten. Wir rutschten einen Abhang hinunter, direkt auf einen Baum zu.
„Raus!“, schrie Mischa, sprang aus dem Wagen und ich hinterher.
Als ich wieder zu mir kam, hörte ich in einiger Entfernung eine Polizeisirene. Mischa beugte sich über mich.
„Alles im Lack?“
„Ich glaub schon“, gab ich zurück.
„Jemand hat Polizei gerufen, ich regle das!“
„Soll mir recht sein“, dachte ich. „Ist ja auch sein Problem.“
Kurz darauf trafen zwei Streifenwagen und der Notarzt ein. Die Polizei baute sofort Scheinwerfer auf, um die Unfallstelle begutachten zu können. Es bot sich ein Bild des Grauens: Offensichtlich war der Kofferraum bei unserer Schussfahrt aufgesprungen, der gefrorene Block gesprengt worden und überall lagen nun unzählige Hasenleichen im Schnee. Der Hirsch war von der Wucht des Aufpralls auf die Vordersitze katapultiert worden. Ich lag im Krankenwagen und konnte durch die geöffnete Tür Mischa im Disput mit den Beamten beobachten:
„Haben Sie was getrunken?“
„Ja, naturlich. War mit Kollege auf Weihnachtsfeier. Danach, ist polnische Tradition, im Wald Weihnachtsbaum scheiden! Wir aber besoffen und verlaufen im Wald. Wir also machen Anhalter und stoppen diese Auto. Am Steuer sitzen diese verruckte, behaarte Mann. Wir aber denken ist egal, besser als erfrieren.“
„Das ist doch kein Mann!“ sagte einer der Polizisten entrüstet. „Das ist ein Tier! Ein Hirsch!!“
„Ja“, gab Mischa zurück, „das hab ich fast gedacht! – Ist Massenmörder-Hirsch! Siehst du? Uberall kleine tote Hirsche! Schweinerei ist das! Gut, dass wir entlarven!!“
Das letzte, was ich von Mischa sah, war, wie er die beiden Polizisten nach seinen Ausführungen angrinste. Doch diese schienen ihm entweder nicht zu glauben oder sie verstanden keinen Spaß oder beides. Auf jeden Fall packten sie den laut Schreienden und legten ihn in Handschellen. Wie er aus dieser Situation herausgekommen ist, weiß ich bis heute nicht. Ich jedenfalls verbrachte das Weihnachtsfest mit einer leichten Gehirnerschütterung, verzichtete auf den Hirschbraten und hielt mich an Rotkohl mit Kartoffeln.
Die super-gute Geschäftsidee
Ich war gerade an meinem Ziel unter der Rheinkniebrücke angekommen, um heimlich etwas Verbotenes zu tun, als ein anschwellendes Getöse in meine Ohren drang. Als Verursacher dieses Tumultes konnte ich eine Menschentraube ausmachen, welche unter lautem Fluchen brutalster Mordandrohungen über die Rheinuferpromenade tobte.
„DOO DRECKELIGE PERVERSE SAU, ISCH SCHLACH DISCH KAPOTT!!“, hörte ich einen, offensichtlich besonders aufgebrachten Typen brüllen, und erschrak, da ich diese wirsche Mordandrohung ganz kurz auf mich selbst bezog. Dann aber sah ich, ein, vor dem Mob fliehendes, nacktes und völlig haarloses, androgynes Wesen, das sich gerade über eine Treppe auf die Brücke flüchtete. Die Beschimpfungen wurden derber, das Geschrei wurde lauter, die Verfolger holten auf. Als das nackte Wesen genau über mir war, hielt es keuchend kurz inne, um dann auf das Brückengeländer zu klettern.
„GLEISCH BISTE DRAN!!“, schrie einer der Verfolger.
„Achtung, ich komme!“, rief die durchaus männlich klingende Stimme des Wesens zu mir. Dann sprang es ab und die Menge johlte, als wären sie gerade Weltmeister im Selbstjustiz verüben geworden. Unter lautem Jubel fiel also etwas Nacktes auf mich zu und ich schaffte es gerade noch, ein paar Schritte zur Seite zu machen, um nicht von ihm erschlagen zu werden. Dann schlug der Körper neben mir auf den Asphalt. Doch anstatt zu Brei zu werden und mich voll zu spritzen, oder gar einen Krater zu hinterlassen, hörte ich ein lautes Boing und der Körper prallte wie ein Gummiball wieder nach oben.
„Pause? Bist du das??“, hörte ich das Wesen rufen, während es sich von mir entfernte.
„Ja“, rief ich zurück, „wie geht’s?“
„Ganz ok, soweit. Moment noch, ich komm gleich.“ Boing! „Das dauert so drei Minuten, bei der Höhe.“
Als der menschliche Flummi genügend Energie abgebaut hatte, kam er freudestrahlend, mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
„Mensch, Pause, wie schön, dich zu seh‘n! – Ich bin‘s, Mischa!!“
Und tatsächlich, als er sich eine Art Kapuze ausgezogen hatte, erkannte ich meinen alten Freund. „Was…“, wollte ich ihn gerade fragen, als uns das erneut einsetzende Gebrüll des Menschenhaufens auf der Brücke mahnte, uns besser aus dem Staube zu machen.
Als wir in meinem Wagen saßen und Mischas Domizil am Unterbachersee entgegenfuhren, erzählte mir mein Freund, wie es zu der eben erlebten Eskalation gekommen war.
„Das ist der Nacktanzug“, begann er. Also ich nenne ihn so. Offiziell heißt das Produkt MAARSO - Multifunktionaler Arbeits-, Anti-Rutsch- und Sicherheits-Overall. Das Ding ist der Knüller, aber das hast du ja gesehen!? Er besteht aus einer Teflon-Gummi-Keramikfaser-Mischung, die als Creme, in gewünschter dicke, einfach auf die Haut aufgetragen wird. In der Sonne trocknet das ganz fix, dann kann man durch das Loch am Hals rein- und rausschlüpfen. Ist super dehnbar und bietet trotzdem ultimativen Schutz! Lässt sich leider nicht färben, hab echt alles versucht. Auf die Idee bin ich im Frühjahr gekommen. Da hab‘ ich bei einem Kollegen die Kegelbahn renoviert und als ich die Fußleisten anschrauben wollte, bin ich wegen meiner Klamotten immer wieder weggerutscht, es war zum Verzweifeln. Im Endeffekt hab‘ ich mich dann komplett nackt ausgezogen und so funktionierte es. War allerdings schon recht kalt und auch nicht gerade sauber in dem Keller, unangenehm. Und wenn man irgendwann schwitzt, rutscht man auch, wenn man nackt ist. Da jeder, der auf einem Parkett- oder Laminatboden liegend dasselbe Problem beim Befestigen der Fußleisten haben muss, hab‘ ich mir gedacht, dass man da doch was machen muss. Glücklicher Weise bin ich seit drei Jahren Erfinder und lange Rede, kurzer Sinn, du siehst ja, was ich da Phantastisches entwickelt habe. Und das Ding hat nicht nur die Eigenschaft, rutschfest zu sein. Gleichzeitig ist der Anzug auch wasserdicht, isolierend, er leuchtet im Dunkeln, er ist atmungsaktiv, feuerfest, strahlungsresistent und kompostierbar. Und, jetzt kommt der Knüller, solange du ihn trägst, alterst du nicht!“
„Ja, toll!“, sagte ich. „Aber warum wollten die Leute dich gerade lynchen?“
„Ja“, sagte Mischa, „an der Präsentation muss ich wohl noch arbeiten!?! Ich dachte, ich inszeniere das irgendwie, ähm – mysteriös, so von wegen: „Das ist unglaublich! Das hat die Welt noch nicht gesehn!!“ Heute hatte ich auf dem Burgplatz einen Stand mit einer kleinen Bühne aufgebaut. Ich hatte mir einen geheimnisvoll wirkenden roten Umhang über dem Nacktanzug umgebunden und wie ein Zauberer einen schwarzen Zylinder aufgesetzt. Dann hatte ich noch zwei leicht bekleidete Assistentinnen an meiner Seite. Schnell drängte sich ein schaulustiges Publikum um meinen Stand. Ich hatte gerade einen kleinen Jungen zu mir auf die Bühne geholt und, während ich mich meines Umhangs entledigte, mit den Worten „Jetzt schieß dem Magier mal voll in die Eier“ einen Revolver entgegengestreckt, als die Zuschauer, vorneweg der Vater des Kleinen plötzlich völlig ausrasteten. – Den Rest kennste ja… Hier links rein“, unterbrach sich Mischa selber und wir fuhren in ein Wäldchen.
Am Ende des Forstweges hielten wir vor einem Tor, über dem ein großes Schild hing. Mischas lecker Ruderbrotverleih, stand dort geschrieben.
„Das ist falsch geschrieben.“, sagte ich zu Mischa. „Ein o für ein r. – Ruderboot, nicht Ruderbrot!“, belehrte ich ihn.
„Ach, meinste?“, fragte er mich grinsend. „Dann komm mal mit.“
Wir gingen in Richtung Seeufer zu einer riesigen Holzbaracke. Mischa öffnete ein Tor und ließ mir den Vortritt.
„Hier habe ich die Boote gebacken und seetüchtig gemacht. Für ein Brotboot brauchte ich etwa 130 Kilo Teig. Der muss dann bei 180 Grad so sieben Stunden in den Ofen. Die Kanubaguettes nicht ganz so lang…“
Hört sich ja auch wieder sehr interessant an“, sagte ich, nicht wenig erstaunt. „Und wo sind die Boote, äh, Brote, Bootbrote?“ –
Mischas Mine verfinsterte sich: „Die Enten haben alle aufgefressen. In der Nacht vor der Eröffnung. Ich hatte 17 Boote gebacken… An der Marina sah es morgens aus wie in Pearl Habour! – Ja, mit Backwaren hatte ich eigentlich noch nie Glück. Vor den Ruderbroten hatte ich auch ‘ne Spitzenidee: Hase-Nuß-Brot.“
„Haselnussbrot?“, fragte ich ungläubig zurück.
„Nee, gibt’s schon!“, sagte Mischa. „Hase-Nuss-Brot. Ein Brot mit Nüssen, mit Haselnüssen. Aber eben auch mit Hasen, also Fleisch!“
„Ach ja!“, sagte ich. „So, So!?“
„Jaahaaa!“, strahlte Mischa: „Wat ‘ne Idee, ne!? Aber son miesepetriger Tannenzapfenlutscher, son Veganer hat mich dann angezeigt… Beim europäischen Ausschuss für Lebens-, Nahrungs- und Genussmittel… Weißt du, wo die ihr Büro haben?“, fragte mich mein Freund lachend. „In Essen! – Na, jedenfalls sagen die, dass eine Backware, wenn sie mehr als 20 Prozent Fleisch, Fell, Haut, Horn, Huf oder Innerei eines Tieres enthält, nicht mehr Brot genannt werden darf. Das ist dann ein fleischkäseartiges Backwerk, sagen die! Also aus mit Hase-Nuß-Brot!“
„Tja, schade!“, sagte ich.
„Im Prinzip ‘ne dufte Idee!? Findest du auch!?!“, fühlte sich Mischa von mir bestätigt. „Aber unter uns, ich hatte bis jetzt nicht nur so tolle Eingebungen. Der Wursthandschuh war ein Reinfall. Also, das war auch irgendwie von Anfang an so ‘ne doofe Idee, die mich viel zu viel Zeit gekostet hat. Mit dem Grillwursthandschuh hab‘ ich mir dauernd die Flossen verbrannt und der Blutwursthandschuh, also der war lecker und angenehm zu tragen, aber schau mal, wenn du en paar Bier zu viel hast, isser weg, der Finger! – Der Tropf-Hund war auch so ‘ne Sache, gab Ärger mit dem Tierschutzbund. Aber auf die Idee mit dem Hund bin ich nur wegen meiner Katze gekommen. Die hatte nämlich Würmer, die sie natürlich auch immer ausgeschieden hat und die hat die Katze dann wieder gefressen…“
„Ihhh!!“ entwich es mir angewidert.
„Schon ein bisschen fies.“, bestätigte mich Mischa. „Aber ich dachte dann nach ein paar Tagen, mal sehen, was passiert, wenn ich die Katze nicht mehr füttere. – Nix is passiert. Die hat sich selbst ernährt. Ich hab‘ dann nach ein paar Wochen beim Patentamt einen Antrag gestellt, von wegen Perpetuum Mobile, weißt du!? Aber ‘ne Katze mit Wurmbefall kann man sich leider nicht patentieren lassen – is‘ dann auch verhungert. Aber die ganze Sache hat mich damals auf eine Idee gebracht. Du kennst doch meinen blinden Onkel Elke!? Der hat ja einen Blindenhund und seit geraumer Zeit auch einen Katheder. Und dieser Katheder tropft immer ein wenig. Da hab‘ ich dem Hund beigebracht…“
„Halt!!“ rief ich. „Ich wills gar nicht wissen!“
Kleinlaut sagte Mischa: „Genauso hat die Frau vom Tierschutzverein auch reagiert…“
„Hast du denn vielleicht auch mal was erfunden, was funktioniert hat oder nicht verboten wurde?“, fragte ich meinen nun etwas betrübt dreinblickenden Freund.
„Was soll‘n das heißen, funktioniert?!“, fragte mich Mischa etwas beleidigt. „Durch die Geschichte mit den Ruderbroten hatte ich ‘ne Idee, mit der ich ‘ne Menge Kohle verdiene. Zwar auch mehr durch Zufall aber egal. Der Erpelschocker! Ich wollte damals, als mir die Enten die Existenzgrundlage weggefressen hatten, eigentlich eine neue Flotte backen und von vorne anfangen. Dafür hatte ich mir ein paar kleine ferngesteuerte Feuerwehr- und Kriegs-Schiffe besorgt, mit denen ich meinen Hafen schützen und die Enten vertreiben wollte. Als ich das im Frühjahr ausprobieren wollte, war gerade Brunftzeit bei den Stockenten. Hast du mal gesehen, mit welcher Menschenverachtung ein Dutzend geile Erpel eine Ente gangbangen? Die Ente wird buchstäblich zu Tode gevögelt. Bis sie ertrunken ist!! Bitter, is‘ das, ganz, ganz bitter! Aber mit dem Erpelschocker im See, passiert so was keiner Ente mehr! Das Konzept hab‘ ich mir schützen lassen und dann der Tante vom Tierschutzverein vorgestellt. Mittlerweile patrouillieren meine Erpelschocker in Naturschutzgebieten in über 80 Ländern! – Da biste platt, wa!?“
„Jo!“, sagte ich anerkennend. „Wie ‘ne Briefmarke. Dabei fällt mir ein, dass ich noch zur Post wollte. Ich muss dann wohl mal los.“
„Mensch!“, sagte Mischa. „Danke nomma, dass du mir heut‘ Mittag den Arsch gerettet hast! Und lass dich zwischendurch mal wieder sehen!“
Das, versprach ich mir selbst, werde ich mir bestimmt nicht entgehen lassen!
Die drei Willis
Im Sommer des Jahres 1948 saßen die drei Willis am Rande eines Bombenkraters auf dem Rübenacker, tranken Bier und philosophierten über ihr Leben, die Welt und den ganzen Rest. Es ging ihnen eigentlich wunderbar. Obwohl sie Waisen waren, hatten sie ein Dach über dem Kopf, immer was auf dem Teller und dazu niemanden, der ihnen Vorschriften machte. Seit Kriegsende war es am linken Niederrhein zudem sehr friedlich geworden. Zu friedlich für drei Jungs Anfang 20. Sie spürten eine innere Unruhe, etwas aus ihrem Leben machen zu müssen oder wenigstens etwas Aufregendes zu erleben. Die drei Willis, so wurden sie von allen anderen Dorfbewohnern genannt, traten zumeist zu dritt in Erscheinung und waren Kriegswaisen. Der erste Willi war Wilhem Maria Kieren, auch Kiere Will genannt, einziger echter Günhovener des Willi-Trios. Willi Nummer zwei, Wilhelm Adolf Busch, stammte aus einer Kothausener Strauchdieb-Familie und war auf der Flucht vor seinem ständig besoffenen und herrschsüchtigen Onkel in Günhoven gestrandet. Wilhelm Stoppelkamp, der auf Grund seines spargelartigen Körperbaus nur „De Lang“ genannt wurde, sobald er alleine in Erscheinung trat, war der Sohn einer ortsbekannten Wanderhure aus Otzenrath und auf dem Weg nach Amsterdam, wo er eine Ausbildung zum Zuhälter machen wollte, weil er die Familientradition fortsetzten wollte, in Günhoven hängen geblieben.
Sie lebten und arbeiteten auf dem Hof des Dorfschmieds, der, in Ermangelung einer Frau selbst kinderlos war und die drei Jungs nach und nach bei sich aufgenommen hatte. Meistens waren sie damit beschäftigt, dem Schmied Material, Altmetalle in Form von Stahlhelmen, Orden und ausgedientem Militärgerät zu organisieren oder sie halfen im kleinen Lebensmittelgeschäft seiner, ebenfalls alleinstehenden Schwester aus. Wie Jungs in diesem Alter nun mal so sind, spielten sie der übrigen Dorfbevölkerung gern Streiche. So mischten sie der zahnlosen Schwester des Schmieds, die zusammen mit einem ganzen Rudel von Katzen über ihrem Lädchen wohnte, einen Winter lang jeden Morgen Schnaps in ihren Brei. Da das Tantchen Emma leider sehr schwerhörig war und am grauen Star litt, geschah es, als sie eines Nachts, natürlich leicht angeschickert, durch das Dorf spazierte, weil sie nicht schlafen konnte, dass sie wieder eine heimatlose Katze auflesen und zu sich nach Hause locken wollte. Doch der herumstreunende Kater war keine klassische Hauskatze. Auf dem Feld am östlichen Dorfrand hatte ein Zirkus sein Winterlager aufgeschlagen und in dieser Nacht war Louie, der alte, ebenfalls zahnlose Löwe, stiften gegangen, durch das Dorf flaniert und dann eben auf das angetrunkene Tantchen getroffen. Wie der Löwe dann tatsächlich durch das enge Treppenhaus in das, schon von etwa 30 Katzen belagerte, kleine Dachzimmerchen der Tante gekommen war, konnte nie sicher geklärt werden. Jedenfalls staunten die drei Lausbuben, als sie Tantchen am nächsten Morgen den Frühstücksbrei kochen wollten, nicht schlecht! –
Beim Organisieren von Nachschub für den Schmied hatten sie eines Tages eine alte Druckerpresse in einer Kirche in Rheindalen gefunden und noch in derselben Nacht mit dem Pferdekarren abtransportiert. Im Keller des Tante-Emma-Ladens wurde die Druckerpresse dann aufgebaut und beschädigte oder fehlende Teile nach und nach ersetzt. Aus Gewehr- und Pistolenkugeln, die sie auf ihren Streifzügen oft kiloweise nach Hause schleppten, fertigten sie schließlich Druckplatten und Lettern an. Aus einer gewissen Not heraus entwickelte sich eine Geschäftsidee. Die drei Willis tranken gerne Bier, waren aber nie liquide genug, um sich das flüssige Gold leisten zu können. Sie druckten also farbige Handzettel für den ortsansässigen Bierlieferanten, der sie mit dem begehrten kühlen Nass bezahlte und die erste Nachkriegs-Werbeagentur war geboren. Und der immerwährende Suff war neben der Langeweile und einem Hauch von krimineller Energie, die jeder junge Mann in sich trägt, die letzte Zutat, die ihre Karriere als Ganoven befeuerte. Zuerst entstand die Idee, die verschollenen Tagebücher von Joseph Goebbels zu schreiben und diese Fälschung dann ganz „zufällig“, in einer Scheune in der Nähe von Rheydt zu finden und dann an die Presse zu verscherbeln. Doch die drei waren keine ideenreichen Literaten, noch hatten sie genügend historisches Hintergrundwissen. Das Projekt starb, noch bevor es das Licht der Welt erblickte. Es war dann schließlich Kiere Will, der die zündende Idee hatte. Aufgeregt erzählte er seinen beiden Mitstreitern beim allabendlichen Bier am Bombenkrater von seinem Plan. Im Laden über der Druckerei wurde seit ein paar Tagen mit den ersten neuen Geldscheinen bezahlt. Die Banknoten bestanden aus wenig strapazierfähigem Papier und für Willi Busch, der eine künstlerische Ader hatte, war es ein Leichtes, die Scheine nachzuzeichnen. Sie fassten also einen, eigentlich wohl überlegten Plan, der ihnen im Endeffekt aber genau deshalb zum Verhängnis wurde. Weil sie, wie sie scherzhaft immer zu sagen pflegten, nur Kleinkriminelle waren, wollten sie keine großen Scheine drucken. Sie einigten sich darauf, auch um kein Aufsehen zu erregen, fünf Mark Scheine zu fälschen. Über den Lebensmittelladen brachten sie das Falschgeld in Umlauf. Jedes Mal, wenn ein Kunde wieder eine Hand voll Fünfer als Wechselgeld herausbekommen hatte und dann witzelte: „Samma, druckt ihr die selber?!?“
Lautete die, von einem süffisanten Grinsen begleitete, kurze Antwort: „JA!! Die drucken wir im Keller!“
Ein paar Jahre lief ihr „Geschäft“ dann ganz prima und völlig reibungslos. Sie hatten immer genug zu trinken und engagierten auch eine Haushaltshilfe, die sich rührend und kochend um den alten Schmied kümmerte, der die drei, als sie in Not waren, aufgenommen hatte. Doch am 30. Geburtstag des Langen wurden sie übermütig. Sie waren mit dem Zug nach Düsseldorf gefahren, um „an der Quelle“ in der Füchschen-Brauerei seinen Ehrentag zu begehen und gebührend zu feiern. Auf der Bahnfahrt hatten sie eine leckere Flasche Appelkorn geleert und beseelt vom karnevalistischen Getränk wirkte das Metropölchen an der Düssel wie New York auf die drei Jungs vom Lande. Nachdem sie sich durch ein paar Kneipen auf der Retematäng getrunken und andere, längst dem Größenwahn verfallene Säufer getroffen hatten, sprach Kiere Will:
„Ihr Wilhelme! - Wir Willis!! - Wir laufen rum wie Bauern! - Aber Unternehmer sind wir! Geschäftsleute!! - Bankiers!!! - Auf zur Königsallee! - Kleider machen Leute!! - Im Anzug säuft sich‘s eleganter!“
Als die drei Niederrhein-Mafiosi ihre neuen, dreiteiligen Anzüge, samt Hemden, Krawatten und Einstecktüchern mit einem Koffer voller Fünf Mark Scheine bezahlen wollten, bemerkte der verwunderte Schneider leider zu schnell, dass alle die gleiche Seriennummer hatten. Aus einer Diskussion wurde Geschrei, daraus ein Handgemenge, bei dem die versammelte Verkäuferschar den Entlarvten die neuen Kleider vom Leibe rissen. Wenig später flitzten drei angetrunkene und halbnackte Bauernlümmel über die Prachtmeile. Diesem Umstand wird seit dem, jedes Jahr im Düsseldorfer Karneval mit dem sogenannten Tuntenlauf auf der Kö gedacht.
De Lang tauchte ab, gründete eine Tauchschule und den ersten Unter-Wasser-Puff in Renesse.
Wilhelm Adolf Busch setzte sich nach West-Berlin ab, nannte sich von da an BuschiDo und lebte davon, dass er Karikaturen von amerikanischen Soldaten auf dem Ku'damm zeichnete. Auf einem Kunstfälscher-Kongress Ende der 70er Jahre lernte er einen Maler namens Konrad Kujau kennen, dem er von seinem, fast in die Tat umgesetzten Plan von der Fälschung der Goebbels-Tagebücher erzählte...
Kiere Will versteckte sich bis Mitte der 60er Jahre im Bombenkrater auf dem Rübenacker und wurde später Hausmeister bei der Kreissparkasse in Viersen. Jeden Abend, nach der Arbeit, sitzt er an einem selbst gegrabenen, kraterartigen Loch in seinem Garten und trinkt drei Kisten Starkbier.
Geschichten aus der fernen, fremden Welt der Tiere
Teil 2: Haustiere
Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich von meinen Großeltern drei kleine Rotwangenschildkröten geschenkt, die ich Tick, Trick und Track taufte. Da ich zu jener Zeit unheimlich gerne meine Spielzeugautos und Plastikfiguren bemalte, stand zur Verwunderung meiner Mutter schon am Morgen nach meinem Geburtstag Fähnlein Fieselschweif auf den Panzern meiner neuen Spielkameraden. Tick, Trick und Track wohnten nicht sehr lange bei uns. Sie wurden schnell zu groß, was bei Reptilien und ähnlichem Getier halt vorkommen kann und zu gefährlich. Daran war im Prinzip der Verkäufer in der Zoohandlung schuld. Denn er hatte zu meinen Großeltern und mir gesagt, dass man die Schildkrötchen auf gar keinen Fall mit Fleisch füttern solle, weil dies dazu führe, dass die Tiere bissig und aggressiv werden. Hätte der Verkäufer uns einfach nur wortlose eine Dose Schildkrötenfutter verkauft, wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, den Tieren etwas anderes zu geben. – Was fressen Schildkröten? Schildkrötenfutter! – Mit meinen exzellenten Vorkenntnissen, konnte ich jedoch schnell feststellen, dass Rotwangenschildkröten gerne, sehr gerne Katzenfutter, vorzugsweise mit Geschmacksrichtung Forelle, fressen. Als der kleine Trick zum ersten Mal zuschnappte und am Zeigefinger meiner Oma baumelte, musste die ganze Familie noch lachen. Nachdem die drei Racker allerdings jeweils die Größe einer Bauarbeiterhand erreicht hatten, hörte der Spaß auf und sie wurden, als unsere Nachbarn im Urlaub waren, in ihren Badeteich umgesiedelt. Als die Sommerferien vorbei waren, beherrschten statt den unzähligen Goldfischen nun drei hungrige Kampfschildkröten das Gewässer. Nachdem erst der Yorkshire-Terrier unserer Nachbarn, kurze Zeit später der kleine Zeh des Jüngsten und schließlich ein Stückchen Wade der Mutter des Hauses auf mysteriöse Weise abhandengekommen waren, haben sie ihren Garten nicht wieder betreten. Seitdem werfe ich jeden Tag eine Packung Fischstäbchen über die Mauer und freue mich darüber, dass es Tick, Trick und Track offensichtlich gut geht, wenn ich sie Schmatzen höre.
Nicht viele Haustiere haben das Glück, nach ihrer Flucht oder Verbannung einen Platz zu finden, an dem sie gut und lange leben können. Goldi, der Hamster meiner damaligen Freundin Melanie, hatte ein unschönes Ende, nachdem er kurz verschwunden war. Er und unsere Beziehung starben bei einem Autounfall, wobei er aber nicht einfach nur überfahren wurde. Als meine Freundin mit ihren Eltern über ein Wochenende zu ihrer Tante fuhr, sollte ich mich derweil um Goldi kümmern. Also holte ich den niedlichen Nager am Freitagabend bei ihr ab, stellte den Käfig auf die Rücksitzbank meines Wagens und fuhr zur Party eines Kumpels. Sicher hätte ich ihn erst zu mir nach Hause bringen sollen, aber verantwortungsvolles Handeln hat leider noch nie zu meinen Hobbys gezählt. Als ich am nächsten Morgen zu meinem Fahrzeug kam, stand die Käfigtüre offen und Goldi war ausgezogen. Weit gekommen konnte er nicht sein, also krempelte ich mein Auto von innen nach außen. Der eifrigste Zöllner in Erwartung des größten Rauschgiftfundes aller Zeiten hätte nicht sorgfältiger suchen können, als ich es tat. Aber der Hamster war weg. Also kaufte ich am Montag vor dem Beginn des Schulunterrichts einen neuen Hamster und Melanie freute sich riesig, ihren geliebten Goldi wieder wohlbehalten zurückzuhaben. Wäre der echte Goldi nicht plötzlich und unverhofft wieder aufgetaucht, hätte sie nie etwas bemerkt und alles wäre, zumindest so halbwegs gut gewesen. Aber am darauffolgenden Samstag waren wir mit meinem Wagen zusammen mit zwei von Melanies Freundinnen zu einer Diskothek gefahren. Auf der Heimreise saß meine Freundin am Steuer. Da ihre Girls und ich einiges getrunken und ausgiebig getanzt hatten, war es eine sehr ruhige Fahrt gewesen, bis ich aus dem Augenwinkel plötzlich Goldi über die Rücklehne des Fahrersitzes krabbeln sah. Im nächsten Moment hatten auch die Passagiere auf den billigen Plätzen diese Entdeckung gemacht, doch leider erkannten sie ihn nicht und schrien: „DA IS NE RATTEEE, AHHIHHH!!“ Melanie stieg in die Eisen, die Reifen hinterließen mit einem ohrenbetäubenden Quietschen zwei meterlange Bremsspuren auf dem Asphalt und ich sah, wie in einer Zeitlupe, dass Goldi Richtung Frontscheibe katapultiert wurde und dann bewegungslos auf dem Armaturenbrett liegen blieb. Bevor ich noch etwas sagen konnte, war ich wieder Single.
Durch die Sache mit Goldi, wurde ich im Umgang mit Haustieren vorsichtiger, was die Lage für diese nicht unbedingt besser machte. Im letzten Frühjahr beobachtete ich immer wieder eine Katze, die um unser Haus schlich. Nachdem wir uns ein paar Tage gegenseitig belauert, schließlich Vertrauen zueinander aufgebaut hatten und ich alle Nachbarn gefragt hatte, ob der getigerte Kater ihnen gehören würde, entschied ich, dass Katerchen bei mir einziehen sollte. Eines Morgens schnappte ich ihn mir und fuhr zu einem befreundeten Tierarzt, um ihn kastrieren zu lassen. Nach der gelungenen Operation rief mich mein Freund in den OP:
„Meine Helferin hat gerade festgestellt, dass der Kater gechippt ist. Kennst du einen Harald Schlüter?“
„Ja“, sagte ich „das ist mein Nachbar. Der hat auch ‘ne Katze.“
„Nee“, sagte mein Freund „der hat 'nen Kater. Und der is‘ jetzt kastriert! – Schönen Gruß dann und viel Spaß beim Erklären! Katerchen wird noch 'ne Stunde schlafen und sollte heute besser drinnen bleiben.“
Zerknirscht fuhr ich nach Hause und klingelte bei meinem Nachbarn, der mir im Schlafanzug die Türe öffnete.
„Harry, ich hab' deinen Kater…“
„Ich auch“, unterbrach er mich „war 'ne Woche auf Kegeltour in Amsterdam. – Wat is'!??“
„Ich habe nicht EINEN, sondern DEINEN Kater. – Du hattest doch gesagt, ihr hättet jetzt 'ne Katze!?! Is' aber ein Männchen. Na ja, bis heute Morgen. Jetzt ist der Sack ab. Es gab da eine Verwechslung und jetzt ist Tom ein Jerry. Er liegt in meinem Wagen und pennt.“
„Jo, dufte!“, sagte Harald, „dann kannste dich heute ja um ihn kümmern, ich muss jetzt wirklich was schlafen!“
Ich lernte zwei Dinge an diesem Tag. Kiffen macht tatsächlich gleichgültig und kastrierte Kater sind nicht nachtragend, sondern noch schnurriger als vorher.
Mit Hunden hatte ich bisher leider weniger Glück als mit Katzen, oder besser gesagt, so mancher Hund hatte das Pech, meine, wenn auch nur kurze Bekanntschaft zu machen. Neben dem Yorkshire-Terrier, den meine Schildkröten gefressen haben, dem Mops einer Freundin, der mir beim Gassi gehen von einem Adler samt Leine gemopst wurde und einem Zwerg-Collie, den ich versehentlich in einer Drehtüre zerquetscht habe, gibt es seit letzter Woche ein viertes Opfer zu beklagen. Wieder Andere Nachbarn hatten bis vor kurzem noch einen Rottweiler Namens Rolf. Rolf war ein ausgesprochen dummer und lauter Hund und das wurde ihm zum Verhängnis. Jeden Morgen und jeden Abend wurde Rolf für jeweils zwei Stunden zum Scheißen in den Garten verbannt. Wenn er sein Geschäft erledigt hatte, saß er eine Stunde und 55 Minuten vor der verschlossenen Terrassentür und bellte. Da mich dieser Protest gerade des Morgens unheimlich nervte, war ich froh, als ich im Internet über eine Anzeige für ein Präparat auf rein pflanzlicher Basis nach einer chinesischen Rezeptur stolperte. Dort wurde genau meine Problematik geschildert: Können Sie nicht schlafen, weil der Hund oder die Kinder Ihrer Nachbarn immer zu laut sind? Dann brauchen Sie die Stille Pille! Die Wirkstoffkombination sollte dafür sorgen, dass die Stimmbänder nach der Einnahme 12 Stunden lang weich werden und man keinen Mucks mehr machen kann. Ich bestellte sofort eine kleine Packung, um das Produkt im Einsatz zu testen. Der Beipackzettel mit den Dosierungsanweisungen war leider ganz schlecht aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt. So bekam Rolf nicht eine halbe, sondern anderthalb Pillen von mir, als er seinen Abend-Schiss beendet hatte. Und was als Nebenwirkung mit dauerhafter Stille übersetzt worden war, meinte eigentlich, dass eine Überdosierung meistens tödlich enden würde. Und so kam es dann auch. Rolf hatte die Pillen noch nicht ganz zerkaut, da fiel er auch schon um. In meiner Not zog ich ihn über den Zaun und brachte ihn erst mal in meinen Keller. Der Versuch in dieser Nacht auf Ebay noch schnell einen Ersatzhund zu ersteigern scheiterte. Seitdem gilt Rolf offiziell als entlaufen und ich habe ein dickes Problem in der Tiefkühltruhe.